Aktuelles

Ausgewandert - auf die andere Straßenseite

Unsere Grenzgeschichte ist „Geschichtetes“ aus den gelebten Erfahrungen der Generationen, die uns vorangegangen sind. Eine sehr persönliche Geschichte hat uns Daniel Niessen erzählt.

Kurz vor seinem Tod übergab mir mein Opa eine Urkunde über den Kauf des Hauses an der Lütticher Straße. Er erzählte mir, dass hierdurch bescheinigt wird, dass sein Ur-Ur-Großvater 1852 auswanderte. Im Grunde war er nur in ein Haus auf der anderen Straßenseite gezogen, doch da die Lütticher Straße damals – kurz nach dem Wiener Kongress – gleichzeitig eine Staatsgrenze war, hatte dies einen Nationalitätswechsel für unseren Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater zur Folge. Das prägte die Geschichte meiner Familie und damit meine eigene entscheidend.

Erfahrungen, die Generationen prägen

Dank Anton Wilhelm Ohns Entscheidung, 1852 von Preußisch Moresnet nach Neutral Moresnet auszuwandern, wurde er in den preußischen Kriegen der darauffolgenden Jahre nicht als Soldat verpflichtet und Jahre später würde auch der Vater meines Opas im Ersten Weltkrieg weder in die belgische, noch in die deutsche Armee eingezogen. Sonst gäbe es mich heute vielleicht nicht.

Da seine Familie seit Generationen neutral gewesen war, fühlte sich mein Opa später trotz der Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum nicht Deutsch. Nach der Annektierung durch das Deutsche Reich versteckte er sich vier Jahre lang vor den Nazis in einem Bauernhof in Monzen, um nicht in die Wehrmacht eingezogen zu werden. Zweimal standen Gestapoagenten bei Razzien vor seinem Versteck in einem alten Kamin. Mein Opa erzählte, dass er ihren Atem vor der dünnen Pappwand hatte hören können.

Ich glaube, mein Opa hat in dieser Zeit einen gewissen „Knacks“ bekommen und er entwickelte vermutlich auch dadurch einen sehr eigenen und teilweise sehr misstrauischen Charakter. Vielleicht ist er einigen Kelmisern unter Ihnen noch in Erinnerung. Er machte es seiner Familie später jedenfalls nicht immer leicht. Dadurch, dass auch meine Mutter von diesem Elternhaus geprägt wurde, spüre auch ich die Prägung der Geschichte, die unsere Region durchlebt hat, am eigenen Leib.

Eine Minengesellschaft drückt ihren Stempel auf

Nach dem Krieg machte sich mein Opa als Automechaniker selbstständig und erwarb schließlich zusammen mit meiner Oma Else dieses Gebäude hier. Das ehemalige Direktionsgebäude der Vieille Montagne war zum Kauf angeboten worden, nachdem die Bergbauaktivitäten eingestellt worden waren.

Er richtete hier eine Tankstelle sowie das Wohnhaus ein, in dem meine Mutter Malou und ihre fünf Geschwister Rosi, Titi, Cornel, Maria und Theo aufwuchsen.

Mein Opa war sehr stolz darauf, dass er das symbolische Herz der Minengesellschaft erstanden hatte, in dem Generationen seiner Vorfahren geschuftet hatten. Er erzählte mir oft, dass sein Ur-Großvater sogar im Grubendienst an einer Lungenentzündung gestorben sei und dass dessen Frau alleine die vielen Kinder in einem kleinen Häuschen an der Rochuskapelle großgezogen hatte (dort, wo die Lütticher Straße über die Göhl führt).

Zudem war diese Minengesellschaft der Grund für die Neutralität seiner Familie gewesen, was sich wie gesagt stark auf ihre Situation während der kriegerischen Auseinandersetzungen im 19. und 20. Jahrhundert ausgewirkt hatte.

Ein Kreis schließt sich

Wir 14 Enkelkinder waren uns dieser historischen Bedeutung nicht bewusst, als wir jedes Jahr Ostereier in und um die alten Hochöfen suchten. Ich erinnere mich an die Erzählungen meiner Tanten, die uns zeigten, wo in dem eindrucksvollen Treppenhaus einst die Schalter gestanden hatten, an denen die Minenarbeiter ihren Lohn ausbezahlt bekamen.

Nachdem mein Opa gestorben war, waren wir uns einig, dass das Haus und seine Geschichte erhalten werden müssen. Daher sind wir - die Mitglieder der Familie Ohn sehr glücklich darüber, dass die Gemeinde das Haus erstanden und dieses wundervolle Museum in ihm eingerichtet hat.

Damit schließt sich ein Kreis, der viel mit dem Leben unserer Kelmiser Vorfahren zu tun hat – und auf eine besondere Weise auch mit dem Leben meines Opas. Daher bin ich mir sicher, dass er alle Entwicklungen seinem Charakter entsprechend akribisch genau verfolgt und auch heute in vorderster Reihe mit dabei ist.

Daniel Niessen, Raeren